In unserer zweiten LinkedIn Masterclass vergangenen Dienstag hatte ich die besondere Gelegenheit, mit Robert Neuhauser, dem ehemaligen Global Executive VP, People and Leadership bei Siemens, auf seine siebenjährige Reise der People & Leadership Transformation zurückzublicken. Robert teilte seine wertvollen Erkenntnisse und Einsichten, die er während seiner beeindruckenden Laufbahn gesammelt hat. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, die Rolle von HR und Learning & Development bei Siemens neu zu definieren. Einige dieser Erkenntnisse habe ich für diesen Artikel zusammengeschrieben.
Unvorhersehbarkeit als Treiber der Veränderung
Die zunehmende Unvorhersehbarkeit des Geschäftsumfelds war ein zentraler Treiber für die HR-Transformation bei Siemens. In unserem Gespräch erzählte er, dass das Geschäft weitgehend unvorhersehbar wird – selbst bei einer kurzen Zeitskala von zwei bis drei Jahren. „Du weißt nicht, welche Skills du brauchst, du weißt nicht, welche Leute du brauchst, du weißt nicht, welche Märkte abheben oder welche Technologie sich durchsetzt“. Diese Erkenntnis hatte weitreichende Folgen für die Gestaltung von Lernen, Karrieren und die Strukturen bei Siemens. Neuhauser und sein Team nahmen die Unvorhersehbarkeit als gegeben an und leiteten daraus konsequent Veränderungen ab. Für ihn war es entscheidend, „sehr konsequent am Anfang zu überlegen: Was sind die Sachen, an die du glaubst, dass sie wahrscheinlich langfristig richtig sind?“ Dann gilt es, sie mit hoher Geduld und unglaublicher Konsistenz anzugehen.
HR als strategischer Partner
Ein Kernaspekt der Transformation ist die Neupositionierung von HR als strategischer Partner des Unternehmens. Robert beschrieb, dass HR nicht länger eine reine Servicefunktion sein darf, sondern aktiv zur Gestaltung des Geschäfts beitragen muss. Es bedürfe einer zunehmenden Verschmelzung der Aufgaben von Business Development und Learning & Development – externe Lernangebote würden immer wichtiger, um das eigene Ökosystem zu prägen und Fachkräfte frühzeitig an das Unternehmen zu binden. Ziel sei es, durch externe Lernangebote „negative Onboarding-Zeiten“ zu erreichen – die neuen Mitarbeitenden also schon vor ihrem Eintritt ins Unternehmen mit den relevanten Fähigkeiten und der Unternehmenskultur vertraut zu machen. Für L&D-Verantwortliche eröffnen sich dadurch ganz neue Chancen und Aufgabenfelder.
Zur Neupositionierung gehöre aber auch, als HR-Verantwortliche Person Position zu beziehen. „Wir sind als HR keine Servicefunktion im Sinne von ‚Ich bin happy, wenn du glücklich über mich bist‘. Das ist nicht unser Job. Da verkaufen wir uns unter Wert“, so Neuhauser. Stattdessen müsse HR dem Business auch mal widersprechen und eigene Ideen einbringen. Dazu gehöre auch, dem Business gegenüber selbstbewusst aufzutreten und bei Bedarf „Nein“ zu sagen. Dieser Wandel erfordert von HR-Expert*innen neue Fähigkeiten und eine veränderte Denkweise. Sie müssen lernen, ihre Vorschläge aus einer Geschäftsperspektive zu begründen und sich nicht von Gegenwind entmutigen zu lassen.
Außerdem betonte Robert, wie wichtig es sei, die oft sehr unterschiedlichen Kulturen und Fähigkeiten von HR und Business zusammenzubringen. Er selbst erlebte den Wechsel von einer Business-Rolle in die HR als „größte Kulturveränderung“ seiner Karriere und plädiert dafür, diesen Austausch aktiv zu fördern, um gegenseitiges Verständnis und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln.
Individualisiertes Lernen: Chance und Risiko zugleich
Um mit der rasanten Veränderung Schritt zu halten, setzt Siemens auf die Individualisierung des Lernens. Robert erklärte, dass es in einer zunehmend unvorhersehbaren Welt nicht mehr möglich sei, Lerninhalte zentral vorzugeben und zu steuern. Stattdessen gilt es, die Verantwortung für das Lernen wieder stärker in die Hände der Mitarbeitenden zu legen. Siemens ermutigt seine Mitarbeitenden, selbst die Initiative für ihre Entwicklung zu ergreifen und schafft dafür die nötigen Voraussetzungen, etwa durch kostenfreien Zugang zu Lernressourcen und die Wertschätzung selbstgesteuerten Lernens.
Gleichzeitig ist sich Neuhauser bewusst, dass eine einseitige Fokussierung auf individualisiertes Lernen die Gefahr birgt, den Zusammenhalt im Unternehmen zu schwächen. Deshalb investiert Siemens gezielt in gemeinschaftsstiftende Lernformate wie Erlebnislernen und Selbstreflexion in der Gruppe. Neuhauser ist überzeugt, dass nur durch diese Kombination aus individualisiertem Lernen und gemeinschaftsstiftenden Formaten Unternehmen in einem unvorhersehbaren Umfeld erfolgreich sein können.
Ein harter Wandel für Führungskräfte
Auch die Rolle der Führungskräfte hat sich im Zuge der Transformation grundlegend verändert. Sie müssen mehr unternehmerische Verantwortung übernehmen und können Aufgaben wie Personalentwicklung und Gehaltsentscheidungen nicht länger an HR outsourcen, so Neuhauser. Diese Veränderung erfordert ein grundlegendes Umdenken und stellt viele Führungskräfte vor Herausforderungen. Gerade diejenigen, die in den letzten Jahren gelernt haben, Personalthemen an HR auszulagern, müssen nun umdenken und sich selbst als Gestalter*innen begreifen. Doch Neuhauser sieht darin auch eine große Chance: Wenn es gelingt, Führungskräfte wieder mehr zu unternehmerischen Disziplinen zu befähigen, könne dies enorme Potenziale für das Unternehmen freisetzen. Der Weg dahin ist nicht einfach, aber lohnend – davon ist Neuhauser überzeugt.
Fazit
Die HR-Transformation bei Siemens unter der Leitung von Robert Neuhauser war eine intensive und lehrreiche Reise. Sie zeigt eindrucksvoll, wie sich HR in einem unvorhersehbaren Geschäftsumfeld neu erfinden und als strategischer Partner des Unternehmens positionieren kann. Zentrale Elemente dieser Transformation waren die Individualisierung des Lernens bei gleichzeitiger Stärkung des Zusammenhalts, die Neuausrichtung der Führungsrolle hin zu mehr unternehmerischer Verantwortung und der Mut, alte Denkmuster aufzubrechen.
Neuhausers Erfahrungen machen deutlich, dass eine erfolgreiche HR-Transformation keine einfache Aufgabe ist. Sie erfordert Ausdauer, Überzeugungskraft und die Bereitschaft, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Doch der Erfolg gibt ihm Recht: Siemens hat heute eine HR-Organisation, die aktiv zur Gestaltung des Geschäfts beiträgt und Mitarbeitende dabei unterstützt, ihre Potenziale zu entfalten. Für Unternehmen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen, bietet sein Beispiel wertvolle Impulse und Mut, neue Wege zu gehen. Es macht deutlich, dass sich der Aufwand lohnt – nicht nur für HR, sondern für das gesamte Unternehmen.