Die Ausbildung steckt in der Krise. Das Bildungsniveau sinkt, immer weniger junge Menschen entscheiden sich für eine Ausbildung und gleichzeitig steigen die Ansprüche und der Bedarf an qualifizierten Auszubildenden rasant an. Wie können wir diesen Herausforderungen begegnen und die Ausbildung fit für die Zukunft machen?
In unserer dritten Masterclass hatte ich die Chance, mit drei Experten zu diskutieren, die innovative Lösungsansätze entwickelt haben: Christina Elkemann (dm Drogeriemarkt), Rainer Gottschlich (Kaufmännisches Berufskolleg Oberberg) und Edgar Frey (Volkswagen). Sie alle schwimmen gegen den Strom und beschreiten neue Wege, um junge Menschen optimal auf die Herausforderungen einer immer unvorhersehbareren Arbeitswelt vorzubereiten.
Was waren ihre Lösungsansätze und was können wir von ihren Erfahrungen lernen? In diesem Artikel fasse ich meine persönlichen Highlights unserer spannenden Diskussion zusammen.
Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung als Schlüssel
„Stellt euch vor, ihr seid Auszubildende bei dm und habt die Aufgabe bekommen, einen Sortimentsbereich in der Filiale neu zu gestalten. Wie würdet ihr vorgehen?“ Mit diesen Worten beschrieb Christina Elkemann in unserer Masterclass eine typische Lernsituation für angehende Drogist:innen. Keine fertigen Lösungen, sondern offene Lernszenarien, in denen die jungen Menschen selbst Verantwortung übernehmen und sich ausprobieren können. Die Ausbilder:innen fungieren dabei als Lernbegleiter:innen, die, so Elkemann, „weniger Antworten haben und einfach mehr Fragen stellen“.
Dieses Beispiel steht stellvertretend für einen Kernaspekt, der sich wie ein roter Faden durch unsere Diskussion zog: Die Bedeutung von Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung in der modernen Ausbildung. Natürlich ist dieser Haltungswandel nicht immer leicht – weder für die Ausbilder:innen noch für die Auszubildenden selbst. Schließlich sind wir es gewohnt, dass es Vorgesetzte gibt, die uns sagen, wo es langgeht. Zudem ist unser Aus(bildungssystem) oft darauf ausgelegt, defizitorientiert zu lernen, wie Gottschlich betonte. Bei einer Notenvergabe wird meist ausschließlich auf die Fehler geschaut und deren Anzahl bewertet, anstatt das Augenmerk auf das zu richten, was gut gemacht wurde. Ein Haltungswandel, in dem Selbstwirksamkeit gestärkt wird, verlangt daher nichts weniger als eine gesamte Systemumstellung. Doch die Erfahrungen zeigen: Wenn man jungen Menschen etwas zutraut und ihnen Freiräume gibt, entfalten sie oft erstaunliche Potenziale und wachsen über sich hinaus.
Erfolgserlebnisse in der Ausbildung schaffen
Beeindruckt hat mich auch das Format „Abenteuer Kultur“ bei dm. Durch theaterpädagogische Arbeit lernen die Auszubildenden hier besser zu kommunizieren und ihre Wirksamkeit im Spiel zu erleben. „Die meisten jungen Menschen, die da rauskommen, sagen: Boah, das war so eine tolle Erfahrung. Ich habe gelernt, ganz anders zu kommunizieren“, berichtete Christina Elkemann. Rainer Gottschlich brachte es auf den Punkt: „Jeder junge Mensch muss einmal auf einer Bühne gestanden haben und Applaus bekommen haben.“ Das stärke das Selbstwertgefühl enorm.
Gottschlich führte weiter aus, dass es dem Berufskolleg Oberberg besonders wichtig sei, den Unterricht ganz gezielt so zu gestalten, dass die Schüler:innen Erfolgsmomente erleben. Eine mit Jugendforscher Simon Schnetzer durchgeführte Studie hatte zuvor gezeigt: Das Selbstwertgefühl vieler Jugendlicher ist erschreckend gering. „Da stand kein einziges positives Wort. Das war ein kompletter Selbstzerriss der Jugend von heute“, so Schulleiter Rainer Gottschlich. Sein Credo lautet daher: „Wir müssen junge Menschen erstmal über die Selbstkompetenz abholen, bevor wir mit der Fachkompetenz weitermachen.“ Oft sind es schon kleine Gesten der Wertschätzung oder ein Schulterklopfer, die viel bewirken können. Zudem war ich beeindruckt, wie konsequent die Schule den Weg der Veränderung geht – mit einer Vision, die vom gesamten Kollegium getragen wird.
Wenn Ehemalige staunen
Bei Volkswagen zeigte sich für mich die Wirkung des neuen Ausbildungsansatzes besonders in zwei Momenten: Wenn ehemalige Auszubildende ihrer alten Ausbildungsstätte einen Besuch abstatten. „Die sagen dann: Boah, das ist eine ganz andere Welt. Ich dachte, ich habe mich verlaufen“, erzählte Edgar Frey. Dass die Ausbildung von heute komplett anders funktioniert, liegt auch an den immer kürzeren Halbwertszeiten des Wissens, das vermittelt wird. Frey ergänzte: „Die Technik, die die Auszubildenden lernen, ist zwei Jahre später komplett veraltet. Egal, welches Fachwissen du ihnen beibringst. Deswegen brauchen wir genau das: Selbstwirksamkeit. Wir müssen Lernende dazu motivieren, lernend zu bleiben und nicht einfach irgendwie eine Lehre zu absolvieren und dann aufzuhören.“
Das VW-Konzept, das den Namen „Third Place“ trägt und gemeinsam mit Forever Day One entwickelt wurde, setzt genau hier an: In offenen Lernräumen mit moderner Ausstattung arbeiten die Auszubildenden weitgehend selbstständig und projektbasiert in kleinen Teams. Statt Frontalunterricht stehen eigenverantwortliches Lernen und die Entwicklung überfachlicher Kompetenzen im Mittelpunkt.
Fokus auf die Ausbilder:innen
Doch die Auszubildenden sind nur ein Teil der Gleichung – eine zentrale Erkenntnis der Diskussion war, dass die Ausbilder:innen der Schlüssel für das Gelingen einer zukunftsfähigen Ausbildung sind. „In meiner Halle habe ich so viele tolle Lernbegleiter:innen und die machen einen super Job“, betonte Frey. „Das sind diejenigen, die in der Klasse diese feinen Unterschiede machen. Manchmal ist es ein Schulterklopfer, manchmal ist es ein Satz, den man sagt, manchmal ist es einfach nur eine kleine Mutmachung.“
Doch der Weg zu diesem neuen Rollenverständnis ist nicht immer leicht, wie Elkemann erklärte: „Wir haben ja sehr viele Ausbilder:innen, Lernbegleiter:innen, auch viele Führungskräfte. Es ist ein großes Unternehmen und da ist auch nicht immer alles heiter Sonnenschein.“ Viele hätten selbst noch ein eher traditionelles Schulsystem durchlaufen und entsprechend gelernt: „Es gibt vielleicht jemanden vorne, der oder die irgendwie die Ahnung hat.“ Umso wichtiger sei es, so Elkemann, immer wieder kritisch zu hinterfragen: „Wie sehr vertraust du denn wirklich in die Freiheitsfähigkeit dieser jungen Menschen?“
Um Ausbilder:innen für die neue Rolle zu wappnen, müsse man in ihre Entwicklung investieren, sind sich die Expert:innen einig. „Wir können nichts von unseren Lehrenden erwarten, was wir ihnen nicht auch beibringen“, so Edgar Frey.
Partnerschaft auf Augenhöhe
Außerdem brauche es eine enge Partnerschaft zwischen Betrieben und Berufsschulen, mahnte Gottschlich an. Bei einem Treffen mit Ausbildungsverantwortlichen sei er erschrocken gewesen: „Ich war der einzige Lehrer und die Unternehmen saßen alle da und überlegten, wie sie denn in den Betrieben ausbilden sollten und wollten alle Methoden wissen. Und da habe ich ganz klar gesagt: Das ist doch nicht euer Job. Ihr habt einen ganz anderen Job in den Betrieben und das ist einfach die Aufgabe der Berufsschulen, der Berufskollegs, genau diesen theoretischen Teil über die Methoden möglichst praxisnah zu vermitteln.“
Gottschlich plädierte also für eine klare Aufgabenteilung: Die Vermittlung von theoretischen Inhalten und Methoden sei Sache der Berufsschulen, nicht der Betriebe. Gleichzeitig müsse diese aber möglichst praxisnah erfolgen, was eine enge Abstimmung zwischen beiden Lernorten erfordere. Der Appell war: Betriebe und Berufsschulen sollten sich als Partner verstehen, die an einem Strang ziehen und sich dabei sinnvoll ergänzen.
Fazit
Die Masterclass hat eindrucksvoll gezeigt, dass sich ein Umdenken in der Ausbildung lohnt – auch wenn der Weg sicher nicht immer leicht ist. Drei Kernbotschaften sind mir besonders im Gedächtnis geblieben:
- Wir müssen die jungen Menschen zu Partnern auf Augenhöhe machen, ihnen zuhören und sie aktiv einbeziehen, wenn wir darüber nachdenken, wie eine gute Ausbildung heute aussehen sollte.
- Der Schlüssel, um Jugendliche heute zu erreichen, liegt darin, zunächst ihre Selbstwirksamkeit zu stärken, bevor wir uns dem Fachlichen widmen.
- Und nicht zuletzt: Ein besonderer Fokus liegt auch auf den Ausbilder:innen und einer Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen ihnen und den Betrieben. Eine gute Koordination und die Aufteilung der Kompetenzen kann entscheidend für nachhaltigen Ausbildungserfolg sein.
Besonders spannend fand ich, dass unsere drei Teilnehmenden aus ganz unterschiedlichen Bereichen kamen – Einzelhandel, Technik und Bildung. Und doch zeigte sich: Die Herausforderungen sind überall dieselben. Genau darin liegt eine große Chance. Denn wenn Unternehmen und Bildungseinrichtungen verschiedenster Branchen ihre Erkenntnisse und Erfahrungen offen teilen, können gemeinsam neue Lösungen entstehen. Voraussetzung dafür ist, dass wir über den eigenen Tellerrand blicken und bereit sind, voneinander zu lernen.
Es gilt also, mit vereinten Kräften und mit Ausdauer daran zu arbeiten, jungen Menschen wieder mehr zuzutrauen und Lernumgebungen zu schaffen, in denen sie ihre Ausbildung aktiv mitgestalten können. Der beste Zeitpunkt, damit anzufangen, ist jetzt.