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Fragt ihr euch, ob eure aktuellen Ansätze für „Corporate Learning“ und Mitarbeiterentwicklung noch zeitgemäß sind oder ob es Zeit für einen radikalen Neuanfang ist? Genau darüber habe ich mit einem ganz besonderen Gast gesprochen: Raphael Gielgen, Future Trend Scout von Vitra und für mich ein wahrer „Vermesser der Zukunft der Arbeit“.
Was ich aus unserem Gespräch mitgenommen habe, sind nicht nur provokante Denkanstöße, sondern klare Imperative für uns alle, die die Zukunft von Lernen und Entwicklung gestalten. Raphael argumentiert eindringlich, dass „Future Literacy“ – also die Fähigkeit, die Zukunft aktiv zu gestalten, statt sie nur vorherzusehen – untrennbar mit einer Revolution unseres Verständnisses von Learning & Development verbunden ist.
Für mich war eine der Kernerkenntnisse:
Es geht nicht mehr um das Abarbeiten von Stundenplänen, sondern darum, wie wir die enormen menschlichen Potenziale in unseren Organisationen wirklich entfesseln können.
Der Begriff „Lernen“ selbst ist oft negativ besetzt. Viele von euch kennen das sicher: Man assoziiert damit starre Compliance-Schulungen, einmalige Wissensaneignung zu Beginn der Karriere oder fremdbestimmte Maßnahmen. Doch die Realität der heutigen Arbeitswelt ist dynamisch, unvorhersehbar und erfordert kontinuierliche Anpassung. Rapha bringt es auf den Punkt:
„Das Hauptproblem für uns Menschen ist, die Schallmauer des eigenen Denkens zu durchbrechen.“
Wir sind oft in „Denkschulen einer alten Zeit“ gefangen, die von Kontrolle und Konsensdenken geprägt sind. Besonders kritisch sieht er die unhinterfragten „Normen der Zusammenarbeit“, die er als den „größten Blindspot“ in der Transformation bezeichnet. Diese Normen bestimmen, wie eure Teams interagieren, Probleme lösen und Innovationen vorantreiben – oder eben verhindern. Wenn Lernformate entwickelt werden, die auf diese alten Normen abzielen, so Rapha, „wäre dasselbe, wenn du heute Mechatroniker lernst […] und das Hybrid- und das Elektroauto findet in deiner Ausbildung überhaupt nicht statt.“
Viele Unternehmen, so Rapha, leben wie in einem „Naturschutzreservat, wo aber noch bis vor Kurzem das Fleisch über den Zaun geworfen wurde.“ Der Überlebensinstinkt, die Anpassungsfähigkeit und der Antrieb zur Veränderung verkümmern, wenn der Druck fehlt und Komfort zur Gewohnheit wird.
Doch die Arbeitswelt hat sich fundamental gewandelt. Rapha zeichnet ein eindringliches Bild, das mich sehr nachdenklich gemacht hat: Früher glich sie der kontrollierten, vorhersehbaren Welt eines „Dr. Brinkmann in der Schwarzwaldklinik“, wo der Chefarzt einen „wunderbaren, kontrollierten Tag“ hatte. Heute aber agieren wir eher wie „die leitende Ärztin an der Unfallchirurgie an der Charité und du weißt nicht, wer in zehn Minuten bei dir im Schockraum liegt.“ Diese neue Realität, geprägt von Volatilität und Unsicherheit, verlangt nach radikal anderen Kompetenzen und einer grundlegend anderen mentalen Einstellung bei uns allen.
Der entscheidende Wandel, den Unternehmen und Mitarbeitende vollziehen müssen, ist der Übergang von einer wissensbasierten zu einer fähigkeitsbasierten Ökonomie.
„Wir kommen aus der wissensbasierten Ökonomie und betreten die fähigkeitsbasierte Ökonomie,“ erklärt Rapha. Die Konsequenz ist weitreichend: „Das Gelernte, Wissen, was du hattest, oder der Abschluss oder dein Titel [sind] viel weniger von Bedeutung […] wie deine eigene, ich nenne es so, Ability to Adapt, dich immer wieder in Inhalte reinzufuchsen.“
Talent ist nicht länger statisch; es geht um die Fähigkeit, intuitiv immer wieder neue „Anlagenfähigkeiten“ zu entwickeln.
Beispiele wie die Brightworks School, wo Kinder durch das Bauen eigener Stühle direkt kontextuelles Lernen erfahren, oder der MIT-Kurs „How to Make Almost Everything“, der Studenten universelle Problemlösefähigkeiten durch praktische Anwendung vermittelt, zeigen, wie diese neuen Fähigkeiten kultiviert werden können. Ein Schlüsselelement dabei ist das „Social Learning“ – die soziale Fähigkeit, voneinander und im Kontext zu lernen, die unsere Spezies besonders macht.
Insights zum How to Make Almost Everything Kurs https://www.youtube.com/watch?v=aPbJmYCSCgA
Angesichts dieser Transformation reicht es nicht, bestehende Lernangebote lediglich zu optimieren. Rapha postuliert – und das war für mich ein echter Augenöffner:
„Lernen ist kein Werkzeug, es ist die Infrastruktur, und wer das nicht begreift, wird nicht langsamer wachsen, sondern der wird nicht überleben.“
Diese Infrastruktur müsst ihr als L&D-Verantwortliche aktiv gestalten, um „menschliche Durchbrüche“ zu ermöglichen.
Praxisbeispiele illustrieren, was möglich ist: Die AWO Mönchengladbach transformierte sich in eine komplett agile Struktur ohne Hierarchie und erzielte „auf einmal 25 % mehr Output, eine viel höhere Zufriedenheit.“ Bei Manthey Racing ist nicht ein Übermaß an KPIs, sondern pure „Hingabe“ der Schlüssel zu Höchstleistungen. Und das Unternehmen Streicher in Deggendorf bewies unternehmerische Anpassungsfähigkeit, indem es von Erdgasanschlüssen auf die Verlegung von Glasfaserkabeln umstellte, als sich die Marktlage änderte.
DIe Aufgabe von L&D ist es, Umfelder zu schaffen, die solche Entwicklungen fördern – Umfelder, die „Vorstellungskraft und Ambition“ wecken und kultivieren, denn diese beiden Faktoren, so Rapha, sind die „große Zauberformel“.
Was Mitarbeitende mitbringen müssen: Anstrengung, Neugier und die Bereitschaft zum „Monkey Business“-Eliminieren
Auch an Mitarbeitende selbst werden neue Anforderungen gestellt. Es braucht die Bereitschaft zur „Anstrengung“, denn wir Menschen haben die wunderbare Eigenschaft, „über Anstrengung besser zu werden.“ Diese Anstrengung bezieht sich nicht auf sinnloses „Mehr-hacken“, sondern darauf, Dingen auf den Grund zu gehen und „diese dumme Arbeit“ – das sogenannte „Monkey Business“ – zu identifizieren und zu eliminieren, um Raum für wertschöpfende Tätigkeiten zu schaffen. Eine grundlegende Neugier und die Offenheit, sich ständig in neue Kontexte „reinzufuchsen“, sind unerlässlich. Ebenso wird „Technology Literacy“, also das Verständnis für neue Technologien und deren Bedeutung für die eigene Arbeit, zu einer Basiskompetenz. KI beispielsweise sollte nicht nur als Automatisierungswerkzeug, sondern als Chance zur „Augmentierung“ menschlicher Fähigkeiten gesehen werden.
Raphaels Botschaft ist ein unmissverständlicher Weckruf für uns alle: Das traditionelle „Corporate Learning“ hat ausgedient. Um die Zukunft der Arbeit erfolgreich zu meistern, müsst ihr als CHROs, Heads of L&D genauso wie CEOs eine Kultur und eine Infrastruktur schaffen, die echte Fähigkeitsentwicklung, menschliche Durchbrüche und kontinuierliche Anpassung in den Mittelpunkt stellen. Es geht darum, die „Schallmauer des eigenen Denkens“ zu durchbrechen und eure Mitarbeitenden zu befähigen, die Zukunft aktiv mitzugestalten.
Die provokante Frage, die Rapha am Ende unseres Gesprächs an CEOs richtet, sollten wir uns alle zu Herzen nehmen:
„Was glauben Sie eigentlich, wie lange Sie das [den Status Quo] noch aushalten werden? […] Glauben Sie wirklich, wenn Sie allen Menschen seit Jahren immer das Gleiche beibringen, auf dieselbe Art und Weise, dass sich dann was ändert?“